Refraktometer sind wissenschaftliche Instrumente, die den Brechungsindex einer Flüssigkeit messen – vereinfacht gesagt, wie stark Licht in einem Medium abgelenkt (gebrochen) wird. In der Kaffeewelt steht der Brechungsindex in direktem Zusammenhang mit der Konzentration gelöster Stoffe im Kaffeegetränk, bekannt als Total Dissolved Solids (TDS). Der TDS-Wert gibt an, wie viel Prozent des Getränks aus gelösten Kaffeebestandteilen bestehen und ist somit ein Maß für die Kaffeestärke. Ein stärkerer Kaffee hat einen höheren TDS-Prozentsatz, ein dünnerer entsprechend einen niedrigeren Wert. Durch die Messung des TDS können Baristas die Extraktion im Brühprozess objektiv beurteilen und reproduzierbar machen. Mit Hilfe von Licht und ein wenig Mathe lassen sich so die ansonsten subjektiven Sinneseindrücke in greifbare Zahlen übersetzen – ein Traum für die Nerds unter den Kaffeeliebhabern, und ein praktisches Werkzeug für alle, die konsistente Qualität anstreben.
Doch nicht jedes Refraktometer aus dem Laborbedarf oder der Weinherstellung eignet sich für Kaffee. Warum? Weil Kaffee eine komplexe Lösung aus unzähligen Verbindungen ist, während z.B. ein einfaches Brix-Refraktometer meist nur auf Zuckerlösungen kalibriert ist. Ein Standard-Brixmeter zeigt den Zuckergehalt in °Bx an (1°Bx = 1 g Saccharose in 100 g Lösung). Bei Kaffee bräuchte man jedoch einen Umrechnungsfaktor. Tatsächlich entsprechen 10 °Bx etwa 8,5 % TDS bei Kaffee, was durch einen einfachen Faktor (~0,85) ausgedrückt werden kann. Zudem verfügen viele günstige Hand-Brixmeter nur über grobe Skalen (Auflösung oft 0,2 °Bx, entspricht ca. 0,1 % TDS) und erfordern helles Durchlicht und manuelles Ablesen. Für die feinen Unterschiede im Filterkaffee (typisch ~1,3 % TDS) sind sie zu ungenau und umständlich. Spezielle Kaffee-Refraktometer hingegen sind präzise kalibriert auf Kaffeelösungen und liefern digitale Anzeigen mit zwei Nachkommastellen in Sekunden. Im Folgenden werfen wir einen kritischen, aber humorvollen Blick auf die gängigen Modelle, ihre Funktionsweise, wie man mit ihnen Stärke und Extraction Yield (Extraktionsrate) berechnet, welche Fallstricke es gibt und was die Wissenschaft Neues über Kaffeeextraktion herausfindet.
Der TDS Wert alleine gibt keine Auskunft über die tatsächliche sensorische Qualität einer Extraktion. Probieren ist zur Qualitätseinschätzung unerlässlich. Dennoch hilft ein Refraktometer an vielen Stellen:
VST Refraktometer
Im Spezialitätenkaffee haben sich einige digitale Refraktometer etabliert, die in Präzision, Ausstattung und Preis variieren. Hier ein Überblick der drei bekanntesten Modelle:
Das Lab Coffee Refractometer von Voice Systems Technology (VST) gilt als Goldstandard in der Branche. Wir haben drei Modelle dieses Refraktometers und diese leisten Tag für Tag seit nun mehr als 10 Jahren ihren dienst.
Das VST Refraktometer misst Kaffeestärken von 0,00 % bis ca. 20 % TDS und erreicht eine herausragende Genauigkeit von ±0,02 % (typisch). Für Espressoproben (mit höherer Konzentration) liegt die Genauigkeit etwas geringer bei etwa ±0,05 % – immer noch sehr präzise. Das Gerät bietet automatische Temperaturkompensation im Bereich 15–40 °C, was praktisch ist, wenn die Probe noch nicht ganz abgekühlt ist. Hochwertige Saphiroptiken und ein 1024-Pixel-Sensorarray sorgen für verlässliche Messungen. VST liefert eine CoffeeTools-Software für PC/Mac direkt mit, welche die Extraktionsberechnung und Datenanalyse ermöglicht. Kein Wunder, dass VST-Refraktometer seit Jahren bei Weltmeisterschaften (Brewers Cup, Barista Championship) als offizielles Werkzeug dienen. Der einzige Wermutstropfen ist der Preis – Profi-Qualität hat ihren Profi-Preis (im vierstelligen Bereich inklusive Software und Filter).
Der PAL-COFFEE des japanischen Herstellers Atago ist ein handliches Taschen-Refraktometer und ein beliebter Allrounder. Es kann sowohl den Brix-Wert als auch direkt TDS anzeigen (es gibt Dual-Scale-Versionen). Wir haben ein PAL-Coffee Refraktometer seit 2018 und nutzen es in Brühkursen und bei Meisterschaften.
Mit einer Messzeit von nur ~3 Sekunden und automatischer Temperaturkompensation bis 100 °C eignet es sich sogar für heiße Proben direkt nach dem Brühen. Die Genauigkeit liegt bei ±0,15 % TDS. Für Filterkaffee vielleicht etwas grob, für Espresso ausreichend. Viele schätzen die robuste, wasserdichte Bauweise (ideal für den hektischen Café-Alltag) und die einfache Bedienung mit nur zwei Tropfen Probe. Praktisch: Dank der Brix-Skala kann man es auch zweckentfremden, um Zuckerlösungen oder Fruchtsäfte zu messen – aber beim Kaffeetesten sollte man auf die TDS-Anzeige umschalten, um direkt Prozent Kaffeeextrakt zu erhalten. Preislich liegt der PAL-COFFEE unter dem VST, aber immer noch im höheren dreistelligen Bereich.
Der Newcomer DiFluid R2 Extract aus China sorgt seit 2022 für Aufsehen als preisgünstige Alternative. Trotz deutlich niedrigerem Preis bietet er eine beeindruckende Genauigkeit von ±0,02 % TDS und einen breiten Messbereich von 0 bis ca. 25 % (laut Hersteller bis 30 % TDS). Das Gerät ist klein, USB-aufladbar und IP67-wasserdicht. Es darf also auch mal ein Espresso darüberlaufen, ohne gleich den Geist aufzugeben.
Besonders innovativ ist die App-Integration: Über Bluetooth verbindet sich das R2 mit der DiFluid Café Smartphone-App, welche Messwerte speichert, Statistiken erstellt und sogar Updates für das Gerät liefert. Das große Display am Gerät selbst zeigt bereits alle wichtigen Daten an (inklusive Temperatur) und erleichtert die Bedienung mit nur einem Knopf. Mitgeliefert wird eine Aluminium-Probenwanne, die für schnelle Temperaturstabilität sorgt. Kurz: Das R2 liefert viele Features der High-End-Geräte zum Sparpreis. Ein ideales kleines Tool für ambitionierte Home-Baristas oder als Zweit-Refraktometer zum Mitnehmen.
Hinweis: Einfache analoge Refraktometer für z.B. Wein oder Honig sind für Kaffee meist ungeeignet. Sie sind oft nur auf hohe Brix-Werte ausgelegt und zu ungenau im niedrigen TDS-Bereich, oder sie erfordern manuelles Ablesen, was subjektiv und fehleranfällig ist. Wer also ernsthaft mit Kaffeemessung arbeiten will, greift besser zu den oben genannten kaffeetauglichen Geräten.
Wie funktioniert ein Kaffee-Refraktometer? Vereinfacht sendet das Gerät einen Lichtstrahl durch die Probe auf ein Prisma und misst den Winkel, unter dem das Licht aus der Probe austritt. Je dichter bzw. konzentrierter die Lösung, desto stärker wird das Licht abgelenkt (gebrochen). Ab einem bestimmten Einfallswinkel tritt sogar Totale Reflexion auf. Das Licht wird dann komplett im Medium zurückgeworfen. Dieser kritische Winkel hängt direkt vom Brechungsindex (RI) der Flüssigkeit ab. Digitale Refraktometer nutzen dieses Prinzip: Sie scannen verschiedene Winkel und detektieren, ab wann kein Licht mehr durchkommt. Aus dem kritischen Winkel errechnet das Gerät den Brechungsindex der Probe.
Beim Kaffee ist nun der Brechungsindex eine Funktion der gelösten Stoffe (TDS), allerdings keine einfache lineare. Die Beziehung zwischen RI und Kaffeekonzentration ist recht komplex und nicht strikt linear, da Kaffee aus hunderten von chemischen Verbindungen besteht. VST hat zur Entwicklung ihrer Algorithmen beispielsweise tausende Proben unterschiedlicher Kaffees, Röstungen und Brühmethoden analysieren lassen, indem sie den TDS sowohl refraktometrisch als auch durch Trocknung bestimmt haben. Aus solchen Datensätzen lässt sich eine Konversionsformel ableiten, sodass das Refraktometer-Display direkt % TDS anzeigen kann, ohne dass der Benutzer selbst rechnen muss. Moderne Kaffee-Refraktometer enthalten also im Grunde die empirischen Ergebnisse vieler Laborversuche als schlaue Kurvenformeln in ihrem Chip, damit aus Lichtbrechung zuverlässig Prozentangaben werden.
Neben der Kalibrierung auf Kaffeelösungen spielt die Temperaturkompensation eine entscheidende Rolle. Wärme verändert die Dichte einer Flüssigkeit und damit den Brechungsindex spürbar. Eine heiße Probe würde also ein falsches Ergebnis liefern, wenn man nicht korrigiert. Deshalb besitzen alle hochwertigen Geräte eine automatische Temperaturkompensation (ATC) innerhalb eines gewissen Bereichs (typisch ca. 10–40 °C oder mehr). Die Elektronik misst die Probentemperatur und rechnet den RI-Wert so um, als ob die Probe z.B. bei 20 °C gemessen worden wäre. Dennoch: Für höchste Genauigkeit empfiehlt es sich, die Kaffeeprobe auf Raumtemperatur abkühlen zu lassen, besonders bei Espresso. Das reduziert Messfehler und schont auch das Gerät. Schließlich soll niemand den teuren Prismaaufbau mit kochendem Wasser schocken.
Ebenso wichtig ist die Probenvorbereitung. Kaffeelösungen – vor allem Espresso oder Immersionskaffee – enthalten immer auch feinste, unlösliche Partikel (Mikropartikel, Fines aus dem Mahlgut) und emulgierte Öle. Diese Trübungen verfälschen den Brechungsindex und müssen für eine präzise Messung entfernt werden. In der Praxis nutzt man hierfür Filterpapier oder spezielle Spritzenfilter (z.B. 0,5 μm Porengröße für Espresso). Filtert man eine Espressoprobe, sinkt der gemessene TDS meist leicht ab, weil die Schwebstoffe nicht mehr zum scheinbaren Feststoffgehalt beitragen. Gleichzeitig steigen aber Präzision und Reproduzierbarkeit der Messung deutlich.
Schritt-für-Schritt ergibt sich folgendes Prozedere für eine zuverlässige Messung:
Klingt nach Aufwand? Zugegeben, etwas Laborgefühl kommt auf. Doch schon bald gehört das Refraktometer zum Barista-Handwerk wie das Thermometer zum Chocolatier. Mit etwas Übung dauern obige Schritte kaum mehr als eine Minute. Und die Belohnung sind exakte Daten über unseren Kaffee.
Hat man den TDS-Wert seines Kaffees ermittelt, stellt sich die Frage: Ist das nun gut oder schlecht?
Hier kommt neben der Stärke noch ein zweiter wichtiger Parameter ins Spiel: die Extraktionsrate (engl. Extraction Yield, oft mit EY abgekürzt). Die Extraktionsrate gibt an, wie viel Prozent des ursprünglichen Kaffeemehls in die Lösung übergegangen sind. Einfacher: Wenn man 20 g gemahlenen Kaffee brüht und am Ende 4 g davon gelöst in der Tasse hat, betrug die Extraktion 20 %. Dieser Wert ist ein zentraler Indikator für den Brühgrad: zu niedrig extrahiert ergibt säuerlich-dünnen Geschmack, zu hoch extrahiert führt zu Bitterkeit und Adstringenz. Balance und Optimum finden wir traditionell bei rund 18–22 % Extraktion. In diesem Bereich schmeckt Kaffee ausgewogen, mit guter Süße und ohne dominante Säure oder Bitterkeit.
Die Extraktionsrate lässt sich aus dem TDS und den Brühwerten berechnen. Die klassische Formel lautet:
In Worten: Man multipliziert das Gewicht des gebrühten Kaffees (in Gramm) mit dem gemessenen TDS-Prozentwert und teilt durch die eingesetzte Trocken-Kaffeemenge. Das Ergebnis ist ein Prozentsatz der ursprünglichen Kaffeemasse. Ein Beispiel: 20 g Kaffee, aufgebrüht zu 300 g Getränk, mit TDS 1,35 % ergeben:
Neben der Extraktion beeinflusst aber auch die Stärke (TDS) selbst das sensorische Erlebnis. Ein Espresso mit 10 % TDS und 20 % Extraktion schmeckt ganz anders als ein Filterkaffee mit 1,3 % TDS bei 20 % Extraktion – trotz identischer Extraktionsrate. Erstere ist eben zehnmal konzentrierter (daher ein kleiner, intensiver Shot), während der Filterkaffee zu ~98,7 % aus Wasser besteht und deutlich „dünner“ auf der Zunge liegt. Für verschiedene Zubereitungsarten haben sich deshalb typische TDS-Spannweiten etabliert:
(Natürlich können diese Werte je nach Rezept, Bohne und Geschmacksvorliebe variieren – es sind Richtwerte, keine Dogmen.) Die spannende Erkenntnis ist: Viele sehr unterschiedliche Zubereitungen zielen letztlich auf einen ähnlichen Extraktionsprozentsatz ab. Die Brühstärke (TDS) hingegen variiert stark je nach Getränketyp. Im sogenannten Brewing Control Chart der Specialty Coffee Association wird genau das visualisiert: ein Koordinatensystem mit Extraktion auf einer Achse und Stärke auf der anderen. Darin liegt ein „ideales“ Viereck (rund 18–22 % E und 1,15–1,45 % TDS für Filterkaffee) als Zielbereich für ausgewogenen Geschmack. Mit einem Refraktometer kann man seinen gebrühten Kaffee punktgenau in dieses Diagramm einordnen – und mit gezielten Rezeptänderungen (z.B. Mahlgrad, Dosis, Wassermenge) steuern, wohin der Punkt wandert.
Kein Barista muss heute mehr selbst Taschenrechner und Brühdiagramm bemühen, um aus TDS die Extraktion zu bestimmen. Es gibt eine Reihe von Apps und Programmen, die genau dafür gemacht sind und oft nahtlos mit den Refraktometern zusammenarbeiten:
Diese digitalen Helferlein sind nicht nur Spielerei. Sie erleichtern die Arbeit mit dem Refraktometer enorm und nehmen einem die Rechnerei ab, führen teilweise Korrekturen durch (etwa wenn man Espresso verdünnen musste, um ihn zu messen) und stellen die Ergebnisse verständlich dar. Einige erlauben den Export von Daten, was für Röster oder Coffee-Shop-Ketten interessant ist, um Brühstandards zu überwachen. Kurz: Apps + Refraktometer = datengetriebener Kaffeegenuss!
Bei all der Euphorie über präzise Messwerte sollte man nicht vergessen: Ein Refraktometer ist ein Werkzeug, kein Geschmacksorakel. Es gibt ein paar Punkte kritisch zu beleuchten:
Warum also trotz aller Limitierungen ein refraktometrischer Ansatz? Weil er ein weiterer Baustein auf dem Weg zum konstant großartigen Kaffee ist. Wie ein erfahrener Q-Grader es ausdrückte: „Das Refraktometer ersetzt nicht Zunge und Nase – aber es lässt sie seltener im Dunkeln tappen.“
Mit Daten kann man Hypothesen überprüfen (zieht ein feinerer Mahlgrad wirklich mehr Extraktion? Hilft Vorbrühen, die Stärke zu erhöhen? etc.) und Qualität sichern. In Zeiten, in denen Specialty Coffee als Handwerk auf Augenhöhe mit Wein oder Kochkunst gesehen wird, sind Messinstrumente im Einsatz ganz normal. Wichtig ist, sie mit Verstand zu nutzen: Ein Kaffee ist kein Zahlenrätsel, das gelöst werden muss, sondern ein Genussmittel, das durch Wissen und Technik auf ein neues Niveau gebracht werden kann – wenn man will.
Die Kaffeewissenschaft boomt, und Refraktometer spielen dabei oft eine Schlüsselrolle, um Experimente zu quantifizieren. Hier einige aktuelle Studien (2021–2024), die für Profi-Baristas und Kaffeenerds spannend sind:
2021 zeigte eine Studie in Scientific Reports von Liang et al., dass bei Immersionsbrühungen (z.B. Cupping) die Extraktionsrate in einem engen Rahmen fixiert ist – quasi ein thermodynamisches Gleichgewicht. Interessanterweise ließ sich der TDS über das Brühverhältnis (Ratio Kaffee/Wasser) leicht steuern, nicht aber die Extraktion (E), die bei einer gegebenen Temperatur immer ähnlich ausfiel. Mit anderen Worten: Mehr Wasser verdünnt zwar den Kaffee (TDS sinkt), extrahiert aber prozentual nicht wesentlich mehr aus dem Mahlgut, sobald die Sättigung erreicht ist. Praktische Implikation? Bei Cuppings zwischen 80 °C und 99 °C lag die Gleichgewichts-Extraktion stets um ~20 % – unabhängig von der Wassermenge. Wer also sehr „dünnen“ Cupping-Kaffee brüht (viel Wasser, wenig Kaffee), hat am Ende einfach einen schwachen Kaffee mit ~20 % Extraktion; wer sehr stark brüht, erhält einen kräftigen mit ~20 %. Das Plateau der Extraktion lässt sich durch Temperatur beeinflussen (höhere Temperaturen lösten etwas mehr, niedrigere etwas weniger). Diese Erkenntnis stellt das klassische Brewing Chart insofern auf den Kopf, als dass bei Immersion der Extraktionsgrad weniger variabel ist als gedacht – die Stärke hingegen sehr wohl, je nach Verdünnung.
2022 untersuchte ein Forschungsteam (Batali et al.) den sensorischen Unterschied von Kaltbrühkaffee vs. heiß gebrühtem Kaffee, wobei beide anschließend auf den gleichen TDS eingestellt wurden (durch Verdünnung auf 2 % TDS). Dadurch konnte man isolieren, wie sich die Brühtemperatur auf das Geschmacksprofil auswirkt, unabhängig von der Stärke. Ergebnis: Selbst bei identischem TDS (~2 %) und gleicher Extraktion zeigten sich deutliche sensorische Differenzen. Heiß gebrühter Kaffee schmeckte durchgehend bitterer und saurer, kalt gebrühter hingegen süßer und floraler, bei allen getesteten Röstgraden und Bohnen. Attribute wie „gummi“ (ein off-flavor) waren bei Hot Brew höher, „blumig“ bei Cold Brew höher. Das widerlegt die Annahme mancher Skeptiker, Cold Brew sei nur „verwässert“ - nein, die Temperatur beeinflusst offenbar welche Stoffe gelöst werden bzw. wie sich Polymere, Säuren usw. extrahieren, selbst wenn die Gesamtmenge gleich ist. Für Baristas heißt das: TDS und Extraktionsprozente alleine erklären nicht den Geschmack. Die Art und Weise der Extraktion (hier Temperatur) spielt eine große Rolle für das Aromaprofil.
Eine spannende Arbeit aus 2024 (Smrke et al., Scientific Reports) widmete sich dem Einfluss der Kaffeepartikelgrößenverteilung – speziell dem Anteil an Fines (ultrafeine Partikel <100 µm) – auf die Espressoextraktion (zum besseren Verständnis empfehle ich unseren Artikel über "Partikelverteilung"). Die Forscher variierten kontrolliert die Menge an Fines im Kaffeepuck und maßen die Auswirkungen. Mehr Fines führten zu deutlich geringerer Durchlässigkeit des Pucks, der Espresso floss langsamer und die Extraktionszeit stieg. Die Extraktionsausbeute erhöhte sich zwar etwas, aber interessanterweise stellten sie fest, dass Aromastoffe nicht linear mit Extraktion zunehmen, sondern ab einem Punkt Plateau oder sogar Verluste zeigen. Sie vermuten, dass zwar eine höhere Extraktion mehr Aroma löst, aber auch länger andauernder Bezug mehr flüchtige Aromen entweichen lässt, noch während des Bezugs. Mit anderen Worten: Ein Espresso mit 25 % Extraktion könnte weniger Aroma in der Tasse haben als einer mit 22 %, weil der längere Bezug Zeit für Aroma-Verflüchtigung bietet. Zudem bestätigte die Studie sensorisch, dass zu viele Fines tendenziell die Balance stören – wahrscheinlich durch Überextraktion von Bitterstoffen in Bereichen, wo das Wasser länger verweilt. Praktisches Learning: Ein gleichmäßiger Mahlgrad mit moderatem Fines-Anteil begünstigt sowohl den Fluss als auch die Geschmacksbalance. Das Refraktometer hilft hier, die Gesamtextraktion zu tracken, aber die Feinanalyse (Aroma via PTR-MS) zeigt, dass mehr Extraktion nicht blindlings besser heißt.
Zusammengefasst zeigen diese Forschungen, wie wichtig präzises Messen für das Kaffeeverständnis ist. Ohne Refraktometer (und andere Messmethoden) wären viele dieser Erkenntnisse nicht möglich gewesen. Die Wissenschaft liefert im Gegenzug spannende Hinweise, die Profi-Anwender wiederum in Praxis testen können („Science-fueled Coffee“!). Es ist ein Kreislauf: Baristas nutzen wissenschaftliche Methoden, und Wissenschaftler untersuchen Barista-Fragen. Am Ende profitieren alle Kaffeetrinker von besserem Kaffee.
Refraktometer haben sich vom Laborgerät zur Geheimwaffe moderner Kaffeebereitung gemausert. Sie erlauben, Stärke und Extraktion – zwei Schlüsselfaktoren für Geschmack – quantitativ zu erfassen und damit bewusster zu steuern. In meiner täglichen Brühpraxis kommt das Refraktometer nur selten vor.
Es war für mich persönlich aber, vor allem bei Vorbereitungen auf nationale Brewers Cup Meisterschaften, aber auch den World Brewers Cup in Rimini 2024, ein wichtiges Werkzeug. Das Refraktometer hat mir geholfen, das Brühen von Filterkaffee und Espresso viel besser zu verstehen. Es hat mir auch geholfen, meine eigene Sensorik zu verbessern und mich selbst sensorische heraus zu fordern. Zwölf Jahre nach dem Kauf meines ersten Refraktometers liebe ich immer noch das Spiel, mit dem Gerät um die Wette zu verkosten. Ich brühe einen Kaffee und versuche den richtigen TDS anzusagen. Auch wenn ich daneben liege, lerne ich etwas über die Brühung.
Modelle wie das VST, Atago oder DiFluid bieten für verschiedenste Ansprüche das passende Werkzeug: vom High-End-Gerät mit höchster Präzision bis zur erschwinglichen Pocket-Lösung für den Heimgebrauch. In Kombination mit Apps wie VST CoffeeTools oder DiFluid Café wird das Monitoring und Dialing-in von Rezepten zum datengestützten Vergnügen. Trotzdem gilt: Die Zahlen dienen dem Geschmack, nicht umgekehrt. Ein Refraktometer sagt uns, was passiert ist, aber ob das Ergebnis gut ist, entscheiden immer noch Zunge und Nase. Wenn man jedoch beides zusammenbringt, sensorische Expertise und Messdaten, lässt sich nahezu alchemistisch an der Kaffeeperfektion feilen.
Letztlich sind Refraktometer trotz mancher Limitierung ein wertvolles Werkzeug, um Konsistenz zu sichern, Lernprozesse zu unterstützen und die Geheimnisse der Tasse weiter zu lüften. Sie haben dazu beigetragen, Kaffee vom „Gefühlsgetränk“ auch zum Wissensgetränk zu machen. Und mal ehrlich: Ein bisschen Nerdtum steht uns Baristas doch gut, solange am Ende ein leckeres Ergebnis in der Tasse steht. In diesem Sinne: May your coffee be delicious and your TDS on point! ☕️📈
Keine Angst, wir spammen dich nicht zu.
13 Kommentare
habe soeben Deinen Beitrag über Extraktion und Stärke zum wahrscheinlich 4. Mal geschaut - dies nach längerem Unterbruch, denn in dieser Pandemie hatte ich viele andere Themen als Kaffee. Und es macht immer wieder extrem viel Spass, dieser Beitrag. Du erklärst das wunderbar und es geht eben tatsächlich um die Basics. Als ich vor einiger Zeit noch viel tiefer in der Kaffee-Materie drin war wollte ich auch mal so eine Kaffekarte (Menuekarte) von 1 bis 10 erstellen. Wie ich aber festgestellt habe, überfordert man die meisten Menschen nur schon mit der Nachfrage, ja, was für einen Kaffee möchtest Du denn gerne. Und wenn man mal aufzählt von Espresso, Flat White, Cappucchino (nehmen dann die meisten, weil sie den Namen kennen) oder Café Nature oder Americano oder was auch immer - dann ist immer grösserer Erklärungsbedarf nötig. Wenn ich mir dasselbe mit einer Karte von 1 - 10 vorstelle, dann wäre eine Kaffee Bestellung vielleicht bereits eine morgenfüllende Angelegenheit :-)
Weiterhin viel Freude beim Thema und wie immer vielen Dank - ist einfach der Hammer, was Du/ihr alles macht für das Thema Kaffee. Einfach schade, dass ihr den Pro-Kurs (Bariasta) nicht mehr anbietet, aber ich verstehe eure Gründe, alles gut. Liebe Grüsse aus Zürich, Stefan
Das von Atago vertreiben wir auch in der Schweiz (https://shop.kaffeemacher.ch/products/refraktometer-atago-pal-coffee-tds) - du kriegst es in Europa aber auch bei Amazon (https://amzn.to/32eV3JD). Grüsse, Benjamin
Welches Refraktometer würdest du für die Gastronomie empfehlen?
Liebe Grüße
Linda
Ich selber benötige ein Refraktometer in meiner Brauerei um feststellen zu können, ob die gewünschte Stammwürze erreicht ist.
Weisst du wo man die Filter für den Refraktometer erhält, also die Filter für den Kaffee vor der Messung?
Vielen Dank für deinen Tipp.
Liebe Grüsse
Monika
die gibt es z.B. direkt bei https://store.vstapps.com/" target="_blank" rel="noopener nofollow noreferrer">VST . Alternativ kann ich Dir empfehlen, einfach die Probe durch Filterpapier laufen zu lassen oder mit der Spritze durchzudrücken. Das ist genauso effektiv. Es geht ja nur darum, dass keine Feststoffe in der Probe sind.
Herzlich,
Benjamin
Was denkst du?