Ich stehe vor dem Fischregal im Supermarkt. Die Hälfte der ausgelegten Fische, Muscheln, Austern und Langusten sind auf irgendeine oder andere Art zertifiziert. Die Labels sind fast ausschließlich blau und grün, tragen die Schlüsselwörter “fair”, “responsible” und “friends” im Namen und geben mir das gute Gefühl, was ja beabsichtigt ist.
Aber ich bin verwirrt:
welches Label ist jetzt genau gut?
Oder sind sie es alle?
Und was heißt denn “fair fish” bei einem toten Tier?
Es kommen immer mehr Fragen auf und damit ein Unverständnis, das mich unsicher macht, dann kritisch und zu guter Letzt; misstrauisch. Ich kaufe also gar nichts - weil ich keine Meeresprodukte esse - aber weil mich auch das Gefühl beschleicht, dass ich hier keinen Durchblick habe. Mir fehlt schlichtweg der Hintergrund.
Zum Glück arbeite ich mit Kaffee und da ist die Sache mit den Labels viel klarer - oder eben eigentlich gar nicht.
Denn das Kaffeeregal im Supermarkt, das ich immer mal wieder abscanne, um den Puls der Zeit zu fühlen, sieht leider nur geringfügig übersichtlicher aus.
Labels sind eigentlich eine Heuristik, eine Abkürzung, Sachverhalte schnell zu erfassen,
sagte mir die Expertin für Nachhaltigkeitskommunikation Anja Schröder in einem Podcast. Eigentlich, sagt sie, weil die Vielzahl von Labels oft überfordern kann. Weil der Gebrauch von Schlagwörtern wie fair, direkt, Bio und nachhaltig längst normal geworden ist und deswegen scheinbar keine Präzision mehr nötig ist, obwohl es sie mehr braucht als je.
Scheinbar gibt es den Wunsch nach Zertifizierungen, nach Produkten, die einem Pflichtenkatalog entsprechend hergestellt worden sind. Wenn wir hier auf Kaffee schauen, offenbart sich aber: zertifizierte Kaffees finden nicht alle ihren Markt. Als Bürger wünschen wir uns das, als Konsumenten aber leisten wir unseren noblen Ansprüchen keine Folge.
Im Bereich des Spezialitätenkaffees gibt es sogar offenkundige Strömungen, die Zertifizierungen als schlechtere Referenz für das eigene Tun nehmen und kein gutes Haar an ihnen lassen. Mir scheint, dass da mehr Stimmungsmache als präzise Argumentation am Werk ist.
Dabei könnte man sich fragen: Sind Zertifizierungen nicht einfach schon mal “ok”, und müssten nicht eher die Kaffees ohne Zertifizierung präziser beleuchtet werden?
Wenn ich von Kaffeetrinkenden höre, dass sie lieber Kaffee ohne Zertifizierung kaufen, als von einem nicht klar definierten Label Kaffee zu kaufen, dann ist es ein Zeichen von Überforderung und ein Reflex, den wir in einem Klimadiskurs auch kennen - oft wird auf Unternehmen gezeigt, die alle Emissionen kompensieren, jedoch kompensieren mehr als 90% der Unternehmen gar nicht.
Was machen also genau diese Zertifizierungen, und was nicht?
Was bringen sie den Produzenten?
Wie teuer sind sie?
Sind sie vertrauenswürdig und woher kommt unser Misstrauen?
Don Roque vom Toca-Projekt in Mexiko auf dem Weg zur Farm (Foto: Miguel Guevara)
Ich frage da nach, wo sprachliche Präzision gewünscht und verbale Kreativität verschmäht wird: beim DIN ISO; dem Deutschen Institut für Normung. Eine Zertifizierung ist demnach eine
„Maßnahme durch einen unparteiischen Dritten, die aufzeigt, dass ein angemessenes Vertrauen besteht, dass ein ordnungsgemäß bezeichnetes Erzeugnis, Verfahren oder eine ordnungsgemäß bezeichnete Dienstleistung in Übereinstimmung mit einer bestimmten Norm oder einem bestimmten anderen normativen Dokument ist.“
Die Norm wird in diesem Fall mit einem Siegel abgekürzt, das normative Dokument wären die Richtlinien eines Siegels, und die unparteiischen Dritten wären die Auditstellen, die in unserem Fall die Kaffeeproduzenten und die verarbeitenden Betriebe auf das Regelwerk des jeweiligen Siegels abklopfen.
In der Kaffeebranche gibt es kein einziges verbindliches Siegel, zu dem sich alle Akteure entlang der Warenkette zu verpflichten haben. Deswegen reden wir hier von sogenannten VSS, den Voluntary Sustainabilty Standards. Die Standards, die von Fairtrade, Rainforest Alliance, 4C etc. herausgegeben werden, sind alle etabliert, aber für keinen Marktteilnehmer Pflicht, sie zu akzeptieren.
Diese VSS sind bisher das am breitesten akzeptierte Tool, um Transparenz auf der Warenkette zu fördern.
Ebenfalls schaffen sie eine Vergleichbarkeit zwischen den zertifizierten und nicht zertifizierten Kaffees, in dem die Kriterienkataloge öffentlich zugänglich sind. Jedes Label definiert mal mehr, mal weniger klar, worauf der Fokus liegt.
Die ITC Standards Map ist die wohl beste Adresse, um verschiedene Standards zu identifizieren, zu verstehen und zu vergleichen.
In diesem Beispiel vergleiche ich drei bekannte Labels miteinander auf ihre sozialen, ökologischen, qualitativen und ethischen Komponenten.
Auf https://www.labelinfo.ch/de/ kann man ebenfalls verschiedene Labels anhand der Produktgruppen vergleichen.
Beide Plattformen gehen präzise auf die Anforderungen der Labels an, die Standardmap verweist dann immer noch auf die zugehörige Rechtsgrundlage. Es macht Spaß, sich auf den Plattformen mal durchzuklicken und dabei zu erfassen, auf wie viele verschiedene Kriterien die einzelnen Siegel überhaupt eingehen.
Das bedeutet auch, wie viele Kriterien Produzenten und ihre Organisationen zu erfüllen haben.
“Es ist sicherlich kein Spaziergang”,
sagt mir der Geschäftsführer einer unserer Partnerkooperativen. Denn die Transparenz, die auf der Konsumentenseite Vertrauen herbeiführen soll, kommt nur dadurch zu Stande, dass eine Audit-Instanz die ganzen Fragenkataloge mit den Produzenten durchgeht. Dabei bleibt kein Stein auf dem anderen.
Don Adrian vom Toca-Projekt arbeitet seit Jahren an der Bodenverbesserung
Wie bei jedem Audit geht es auch hier darum, so viel wie möglich so gut wie möglich zu machen, aber auf keinen Fall etwas falsch zu machen.
Wenn ein Mangel, wie zum Beispiel die nach Kriterienkatalog "unsachgemäße" Lagerung von Dünger beanstandet wird, braucht es Nachbesserung. Andere nicht eingehaltene Kriterien gelten als Deal-Breaker und führen zum Entzug des Labels.
Diese Stringenz und Strenge gibt dem Label die Glaubwürdigkeit und überhaupt ein Berechtigungsdasein. Doch welche Rolle kommt den zertifizierten Kaffee im Markt zu, was bedeuten sie für die Produzenten, die zertifiziert sind und ihren Kaffee nun in einen solchen Markt bringen wollen?
“Es gibt viele verschiedene Zertifizierungen, nebst den allgemein bekannten auch die Firmeneigenen wie C.A.F.E Practices von Starbucks oder AAA von Nespresso”,
bemerkt Christian Cvrljak, Händler bei InterAmerican, der Spezialitätenabteilung des weltgrößten Händlers Neumann Kaffee Gruppe.
“Beim Robusta aber gibt es noch nicht viel zertifizierten Kaffee. Es werden zwar jedes Jahr neue Farmer zertifiziert, aber es sind noch geringe Zahlen.”
Die Neumann Kaffee Gruppe handelt global mit ca. 40% Drittpartei-zertifizierten Kaffees, InterAmerican mit ca. 70%.
“Der Trend geht ganz klar zu zertifizierten Kaffees”, sagt Cvrljak, "vor allem wenn wir auch auf die neuen EU Richtlinien schauen. Ende 2024 kommt das Deforestation Law. Wenn das Gesetz so kommt, wie es angedacht ist, kann man in der EU sowie in der Schweiz nur noch zertifizierten Kaffee kaufen.”
Von 2010 bis 2020 haben sich immer mehr Produzentenorganisationen zertifizieren lassen. Laut dem Coffee Barometer waren zwischen 2020-22 ca. 55% des global produzierten Kaffees in der einen oder anderen Form zertifiziert.
Wenn so viel Kaffee zertifiziert wird, müsste doch auch ein Effekt spürbar sein und wir müssten immer mehr positive News lesen können?
Grafik aus dem Coffee Barometer, 2023
55% des Kaffees wurden zwar zertifiziert, jedoch wurde 2021 nur 26% davon im Markt als solcher aufgenommen. Die anderen 74% des zertifizierten Kaffees landeten im Markt für konventionellen Kaffee.
Das heißt, dass zertifizierte Produzierende wohl ihre Hausaufgaben gemacht haben, um überhaupt die Zertifizierung zu erreichen, bekommen aber am Ende der Saison keine Prämie, weil der Markt für zertifizierten Kaffee zu klein ist. Oder deshalb, weil zu viel Kaffee zertifiziert wird.
Es wird nicht eintreten, dass 100% der zertifizierten Kaffees ihren vorgesehenen Markt finden, da es auch hier um Angebot/Nachfrage geht. “50-60% seien anzustreben”, sagt mir ein gut unterrichteter Kontakt. Denn: so lange das Angebot an zertifizierten Kaffees grösser ist als die Nachfrage, bleiben die Zertifizierungen günstig.
Bei 4C beispielsweise liegen die Prämien bei 2-3cts/lb (1 lb = 1 libra = 0,45kg), bei Rainforest Alliance bei knapp 5 cts/lb - das ist deutlich weniger und nicht vergleichbar mit den Fixpreisen und Prämien die Fairtrade anbietet. Nur ist Fairtrade für viele Käufer (=Trader und Röstereien) zu teuer. Nach dem Motto: es darf schon nachhaltig sein, aber es darf halt nicht so viel kosten.
Also werden diejenigen, die ein günstigeres Nachhaltigkeitssiegel suchen als Fairtrade, bei Rainforest Alliance, 4C oder dann den Unternehmens-eigenen Zertifizierungen fündig, die u.a. deswegen günstiger sind, weil sie nicht durch eine Drittpartei auditiert werden.
Solange das Überangebot an zertifizierten Kaffees da ist, sind sie theoretisch attraktiv für Käufer. Kippt diese Imbalance in die Richtung, dass das Angebot an zertifizierten Kaffees kleiner wird, werden die zertifizierten Kaffees teurer und sind noch weniger attraktiv für Käufer als heute.
Als mir klar wurde, was ich in den letzten vier Abschnitten geschrieben habe, musste ich mehrmals stutzen - ein System, das gute Absichten hat, wirbt Produzenten an für etwas, was keine Gelinggarantie mit sich bringt.
Es ist ein bisschen wie Lotto mit 30 statt 100 Ziffern. Die Chancen stehen ganz ok, dass ich etwas gewinne, es kann aber auch nicht sein. Am einen Ort entscheidet das Glücksrad, am Anderen die, die einkaufen.
Kaffeeproduzenten fragen sich täglich: was wird der Marktpreis bringen? (Foto: Miguel Guevara)
“Es ist einfach auch ein Geschäft”, sagt Kleber Cruz von der GEPA. Auf der einen Seite zahlen die Produzentenorganisationen eine Gebühr, um das Siegel benutzen zu dürfen. Auf der anderen Seite bezahlt der Einzelhandel die Lizenzierungs-Kosten, die bei Fairtrade momentan 20-24 cts/kg ausmachen, gemäß Cruz. Die Produzenten bezahlen die Auditgebühren, die Konsumenten die Lizenzgebühren. Es sind andere Rechnungssteller, aber es geht um das gleiche Label.
Es werden also immer mehr Produzierende zertifiziert, gleichzeitig wächst der Markt für zertifizierten Kaffee aber teilweise wenig bis gar nicht - Fairtrade und Bio stagnieren, RFA und 4C - die günstigeren Alternativen - wachsen.
Es kommt mir vor wie mit der Recycling-Quote von Plastik. Scheinbar orientieren sich alle daran, alles recyclingfähig zu gestalten, die Quote aber wächst viel zu langsam. Viel schneller wächst der Verbrauch an neuem Plastik.
Wo liegt jetzt also genau der Reiz, da mitzumachen als Produzent?
Warum sollte sich jemand zertifizieren lassen, was mit Mehrkosten und Hoffnungen verbunden ist, die Erfolgsaussichten aber gering sind?
Kooperativen, Produzentenorganisationen, aber auch einzelne Produzierende können sich mit der Zertifizierung neue Märkte erschließen. Nochmals Kleber Cruz von der GEPA.
“Natürlich braucht es Zertifizierungen, wenn eine Organisation in den Einzelhandel kommen möchte.”
Der Einzelhandel wirbt gerne damit, “mehr” für die Nachhaltigkeit im Kaffee zu tun, und tut das oft mit dem Bekenntnis für Zertifizierungen. Die Kaffees, die es als zertifizierten Kaffee bis ins Regal geschafft haben, sind am Zielmarkt angekommen. Viele andere schaffen es gar nicht ins Regal, oder wurden unter unlauteren Bedingungen eingekauft, sogenannten Combos.
Wenige Supermärkte gehen selber in die Verantwortung und schaffen innerhalb ihres Sortiments neue Lösungen, suchen den direkten Austausch und investieren vor Ort. In der Schweiz gibt es hierfür die Beispiele der Migros und Coop. Wer andere Beispiele kennt (aus DE und AUT), möge sie gerne in den Kommentaren festhalten.
Das Bedürfnis an zertifizierten Kaffee bei Supermärkten in Deutschland, Österreich und der Schweiz scheint zu steigen, aber bleibt im Vergleich immer noch der kleinere Anteil am Sortiment. Die Retailer sind den VSS grundsätzlich offen gegenüber, die ganz großen Röstereien wie Nestlé, JDE u.a. haben aber oft die eigenen Sourcing- und Nachhaltigkeitsprogramme, die dann nur 2nd party verified sind, also nicht Drittpartei-auditiert, und deswegen günstiger sind.
Was bedeutet diese Ausgangslage nun für alle, die Kaffee produzieren und sich zertifizieren lassen?
“Die Kosten der Zertifizierung sind ein Problem”, konstatiert Kleber Cruz, der bei der GEPA für den Rohkaffee-Einkauf verantwortlich ist. Der Preis des jährlichen Zertifizierungsaudits ist abhängig von der Grösse der Genossenschaft. Damit bezieht sich Cruz auf Fairtrade, das nur demokratisch organisierte Genossenschaften von Kleinproduzenten zertifiziert.
Die Zertifizierungskosten der folgenden Kooperativen geben einen Eindruck, wie gross der finanzielle Druck auf der Aufwandsseite ist:
Die Zertifizierungskosten sind bei Fairtrade abhängig von der Größe der Kooperative und des produzierten Volumens. Alle gesammelten Informationen bewegen sich zwischen 2500 - 3000 EUR pro Jahr - aber nur pro Audit.
“Die Auditstellen versuchen, verschiedene Zertifizierungen zusammenzufassen, das ist aber tricky”,
berichtet Cruz. Wer verschiedene Märkte mit biologisch produziertem Kaffee beliefern möchte, muss sich für den jeweiligen Zielmarkt zertifizieren lassen. Die EU, die USA, Australien, Japan - das sind alles große Märkte, aber alle haben ihre eigene Zertifizierung.
“Wenn ich den japanischen Markt nicht verlieren möchte, aber nur zwei Container dahin schicken kann, dann lass ich mich trotzdem zertifizieren.”
Wer also mehr produzieren, zertifizieren und so verschiffen kann, hat unter dem Strich geringere Zertifizierungskosten pro Kilogramm. Aber wenn der Markt nicht da ist, der den gesamten zertifizierten Kaffee aufnehmen könnte, dann sind die Zertifizierungskosten Mehrausgaben, die keinen Gegenwert haben.
Im Gegensatz zur Fairtrade zertifiziert Rainforest Alliance (RFA) auch einzelne Farmen. Wir könnten mit unserer Finca Santa Rita auch Mitglied bei RFA werden, wenn wir dem Kriterienkatalog entsprechen.
Produzierende bezahlen das Audit bei einer Zertifizierungsstelle ihrer Wahl. Die anfallenden Kosten sind dann abhängig von der Auditstelle, und nicht von RFA. Dazu kommen, wie bei jeder Zertifizierung, die anfallenden Kosten für die Umsetzung der zu erbringenden Maßnahmen. Beim Kaffee erhebt RFA 0,015 Dollar pro Pfund (lb) Rohkaffee als Gebühr, die sogenannte first buyer zu entrichten haben, also die Partei, die als erste den Kaffee von der Kooperative oder der Farm abkauft.
Im folgenden Rechenbeispiel stellen wir einen Fairtrade, einen Fairtrade Organic doppelzertifizierten und einen von RFA zueinander.
Die Auditkosten für Produzenten, Verarbeiter (z.B. Röstereien) und Inverkehrbringer (z.B. Supermarkt) sind jährlich von allen zu entrichten. Das ist bei allen hier aufgelisteten Zertifizierungen gleich.
Ob sich der Aufwand für Kaffeeproduzenten am Ende des Tages lohnt, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Dazu braucht es eine spezifische Analyse mit konkreten Zielvorgaben.
Was ich aber mehrmals in der Recherche gehört habe, ist: dass doppelzertifizierte (Fairtrade/Organic) Kooperativen ihren Kaffee in den letzten Jahren immer mehr auf dem lokalen Markt verkaufen, weil das für sie attraktiver ist.
Ein Beispiel:
Eine Kooperative in Peru verkauft ihren zertifizierten Kaffee in Peru, weil erstens der Kaffee in wenigen Tagen bezahlt wird und zweitens, weil die Finanzierungskosten wegfallen, die für die Überbrückung, bis das Geld vom internationalen Käufer kommt, anfallen würden. Die Zinsen in Peru gehen hoch bis auf 30%. Und diese fressen die Prämien der zertifizierten Kaffees wieder weg.
Mit der Erhöhung des Minimum Preises von Fairtrade auf 180 cts/lb wird das oben geschilderte Problem noch grösser. Die Nachfrage sei in Europa deutlich kleiner geworden, werde ich unterrichtet. Fairtrade und Fairtrade-Organic zertifizierte Kaffees werden in den USA gerade stark nachgefragt, weil Fairtrade USA bei der Erhöhung auf 180cts/lb schlicht nicht mitgemacht hat.
Ich fassen diesen Zirkelschluss nochmals punktweise zusammen:
Das System funktioniert nicht wie angedacht auf ganzer Linie. Und trotzdem wird weiterhin zertifiziert. Ich zitiere an dieser Stelle nochmals Kleber Cruz von der GEPA: “Es ist einfach auch ein Geschäft."
Was wäre denn die Alternative? Keine Zertifizierung?
Wer diversifiziert und mehr anbaut, kann zusätzliche Absatzmärkte finden (Foto: Miguel Guevara)
Seit ich mit Kaffee arbeite, werde ich gefragt, ob Zertifizierungen nun gut, schlecht, effektiv oder unnütz sind. In dieser Zeit habe ich viele Gespräche mit Kooperativen, Zertifizierern, Auditbehörden und Unternehmen geführt, die selbst zertifiziert sind. Gerade bei ihnen gibt es natürlich ein Selbstverständnis, dass Zertifizierungen der zu gehende Weg sind.
Höre ich auf die Stimmen von Konsumenten, glaube ich, drei verschiedene Diskurse ausmachen zu können.
Eine der vielen Versprechungen von gewissen Spezialitätenröstereien ist, dass sie auf Labels verzichten, weil ein Label keine sensorische Qualität liefert und der direkte Ansatz, mit Produzenten zusammenzuarbeiten, viel lohnenswerter sei.
Die hier besprochenen Labels hatten nie den Fokus auf sensorische Qualität, weshalb dieses Argument nicht zählt. Die “direkte Zusammenarbeit” ist eine schwammige Formulierung. Wie viel direkt ist direkt? Und wer wird wieso wann auf der Lieferkette ausgeschaltet, zu welcher Folge?
Oft sind direkte Zusammenarbeiten auf einzelne Produzenten oder kleinere Farmen ausgelegt, was deutlich nicht der Absicht von Zertifizierern entspricht, die möglichst inklusiv arbeiten. Aus Qualitätsansprüchen und einer wenig präzisen Definition von direktem Handel auf Label zu verzichten, sind demnach Gründe, die man gerne hinterfragen darf.
Einen anderen Diskurs nehme ich bei Meso- und Makroröstereien wahr, dass sie auf zertifizierte Kaffees setzen. Damit einher gehen oft große Versprechungen, dass eine Rösterei nun besonders nachhaltig ist und sie - rein durch den Kauf von zertifizierten Kaffees - Dinge zum Besseren wenden würde. So, als wäre ein Label die Versicherung für eine gute Zukunft und eine Absicherung, das Richtige zu tun.
Jedoch kann ein Label gar keinen vollumfänglichen Wandel herbeiführen, dafür sind sie nicht designt. Die jeweiligen Forderungskataloge präzisieren konkrete, zu erfüllende Punkte, doch sind diese - auch wenn sie detailliert sind - nicht spezifisch auf die jeweiligen Partner ausgerichtet.
Punktuelle Lösungen gehen Labels nicht an, und da liegt die große Chance für Händler und Röstereien, da eine Brücke zu schlagen, vielleicht auch zusammen mit einem Zertifizierer: win-win-win.
Partnerschaften werden die Zukunft sein, was verschiedene Zertifizierer schon anstreben. Darüber hinaus bieten Zertifizierer zusehends weiteres Know-How. “Es gehe immer mehr um Risikoanalysen und Compliance”, so Peter Lerch von Rainforest Alliance. Dabei müssen die Programme von Händlern transparenter und extern auditiert werden.
Ich dachte, dass die Zeiten unbegründeter Ablehnung gegenüber Konzepten, die transparent sind, vorbei seien. Aber nein, ich wurde vor Kurzem eines Besseren belehrt.
Ein potenzieller Kunde hat sich für unseren Kaffee interessiert.
Als ich über das Bio-Siegel sprach, fiel mir der Gast ins Wort und fand sich in einer minutenlangen Tirade gegenüber jedem Siegel wieder. Alles sei gelogen, nichts wert, alles Betrüger, niemand würde sich darum kümmern, etc.
Ich begleitete den Gast zur Tür.
Labels sind einer Dauerkritik unterstellt, bei denen sie sich immer wieder neu behaupten und rechtfertigen müssen. Die Transparenz wird jährlich grösser, es fehlen weiterhin präzise Langzeitstudien über die Wirksamkeit, aber es gibt weder eine hidden agenda noch dubiose Machenschaften. Labels sind auch ein Geschäft, ob man das mag, oder nicht, aber sie sind keine Untergrundorganisation.
“Labels sind keine puren Labels mehr”,
sagt mir Peter Lerch von Rainforest Alliance. Die Zertifizierer bearbeiten verschiedene Themen auf der Kaffeekette intensiv, wissenschaftlich und geben selbst Diskussionspapiere heraus, um sich öffentlich reflektieren zu lassen.
Die neuen EU-Gesetze wie EUDR (Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten) betreffen die Zertifizierer natürlich auch, also müssen sie da direkt am Puls der Zeit und im Dialog mit ihren Partner-Produzenten sein und geben ihre Policy-Statements dazu ab.
Es brauche aber noch sehr viel Aufklärungsarbeit, alle vorgenommenen Änderungen zu kommunizieren, so Lerch weiter. Das ist für mich der alles-bestimmende Diskurs, denn hier können die Zertifizierungsorganisationen beweisen, welchen Mehrwert sie in Zeiten liefern, wenn wirklich gar nichts mehr stabil ist.
2012 hörte ich zum ersten Mal von der post-label era, einer Zeit, in der Labels nicht mehr gebraucht würden. Sie wäre ganz nah, hieß es. Ich glaube es weiterhin nicht, und kann mir ein baldiges Ende nicht ausmalen. Labels wie Fairtrade, Bio Suisse, Rainforest Alliance oder Demeter sind tief in der Konsumentenwahrnehmung verankert, diese Labels wird es auch in 20 Jahren noch geben dürfen - die Prozesse dahinter aber, werden sich weiterhin wandeln.
Einer meiner Leitfragen stammt von Marketing Guru Seth Godin: who’s it for and what’s it for?
Für wen machen wir das und für was machen wir das. Bei den Labeln gibt es mindestens zwei Adressaten: Konsumierende können mit Labels lernen, achtsamer einzukaufen, und Produzenten könnten bei diesen Konsumenten einen Markt finden.
Die Frage nach dem was bleibt hochzuhalten und hat nichts an Aktualität eingebüßt: das Ziel der besprochenen Labels ist es, die Lebensgrundlagen von Kleinstproduzierenden, die oft mit dem Rücken zur Wand stehen, zu verbessern. Abgesehen davon, wie gut, oft und langfristig dies gelingt, wird sich am “was” Nichts ändern.
Labels sind Teil des Kaffee-Ökosystems. Katja Schmittner von Fairtrade Max Havelaar sagte mir mal in einem Podcast: “Wenn es Fairtrade nicht mehr braucht, haben wir unseren Job erledigt." Labels schaffen Sichtbarkeit für Probleme, die mit dem Kauf eines gelabelten Kaffees angegangen werden.
Die Wirksamkeit von Labels beim Kaffee ist umstritten. Es gibt wissenschaftliche Papers, die sich aber mehrheitlich einzelne Case Studies aussuchen müssen. Die Impact Reports der Zertifizierer selber gehen oft weniger genau in die Tiefe und Breite - und wenn doch, dann dürfen die Links gerne in den Kommentaren geteilt werden.
Und wenn ich dann direkt Kooperativen frage, wie groß der Impact ist, sind die Antworten nie klar, sondern beschreiben eher einen Zustand, was Labels ermöglichen zu denken und weshalb es sich lohnen könnte. Klare Claims zu machen ist also schwierig.
Die großen Stärken von Zertifizierern sind, dass sie Vergleichbarkeiten schaffen, was nachhaltig ist und "nachhaltig" dabei definieren. Ebenso fordern sie die Rechenschaftspflicht ein, da eine Drittpartei ein Audit durchführt.
Die Gefahr von Greenwashing ist bei zertifizierten Kaffees deutlich kleiner als bei nicht-zertifizierten Kaffees, da letztere keiner externen Prüfung unterstehen.
Röstereien, die ohne Labels arbeiten, sind nicht gezwungen, Rechenschaft abzulegen. Es gibt dazu aber freiwillige Alternativen, wo man sich als Rösterei engagieren und Daten teilen kann. Transparency Coffee oder selbst verfasste Transparenzberichte wie von Vote Coffee sind Mittel, um freiwillige Rechenschaft abzulegen.
Aus Konsumentenperspektive ist es verständlich, dass ein Label-Dschungel teilweise mehr verwirren als klären kann. Vor allem dann, wenn es sich um eigene Labels einer Rösterei oder eines Händlers handelt.
Der Griff zu Labels, die schon lange etabliert sind, ist eine sichere Wahl, da die Label-Organisation Rechenschaft ablegen müssen. Wer auf Nummer sicher gehen möchte in einem Supermarkt, kauft doppel-zertifizierten Kaffee ein, FTO - Fairtrade und Organic.
Ich esse keinen Fisch aus Meeren, sondern nur aus Schweizer Flüssen und Seen. So werde ich an der Fischtheke nicht fündig und kaufe in der Fischzucht im Nachbardorf eine geräucherte Forelle.
Die Fischlabels haben mich verwirrt, jedes klang richtig gut. So kann einem das Gefühl erschleichen, dass Zertifizierungen einem Gewissheit geben über etwas, was vielleicht nie eintritt, was man nie ganz versteht, und vielleicht auch nicht sollte, weil sich jemand anders darum kümmert.
Labelorganisationen haben den ganz großen Anspruch, die Makro-Herausforderungen im Kaffeebereich anzugehen. Es braucht aber genauso das Mikro, und da können Private, Unternehmen und NGO daran arbeiten, gleichzeitig. Deren Ansätze sind weniger skalierbar, weil sie punktuell sind, aber die darunterliegende Denke ist vervielfältigbar und Gutes wird kopiert.
Es wird nie reichen, sich auf Labels auszuruhen. Aber es hilft auch nicht, scharf gegen Zertifizierungen zu schießen. Wenn jemand in die Pflicht genommen werden sollte, dann sind es all jene, die keinen zertifizierten Kaffee einkaufen, keine punktuellen Maßnahmen im Ursprung ergreifen, oder aus dubiosen Quellen Kaffee einkaufen.
Keine Angst, wir spammen dich nicht zu.
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